•Nicolai's Fahrschule
Nicolai’s Fahrschule
Wie alles anfing mit den Moppeds
Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges habe ich im Spätsommer 1955 das erste Mal ein Motorrad wahrgenommen. Der Klang der Maschine legte damals schon eine Ton-Datei in meinem Hirn ab, der etwas später dann noch ein Movie hinzugefügt wurde, als ich meine optische Einrichtung gezielt zu nutzen lernte. Die lebenslange Phase der Affinität zu Motorrädern begann nachhaltig, als meine Sensoren die zweifuffziger DKW eines Nachbarn vernahmen. Auch der Duft des verbrannten Zweitaktgemischs wurde von mir äußerst wohlwollend erfasst, als die blaue Wolke zu mir rüber wehte. Ich hatte nun eine Benzin-Öl-Mischung im Blut und das schon vor meiner Einschulung. Meinen Opa erfreute diese Entwicklung, hat er doch selber als junger Familienvater seine hart verdiente Kohle lieber in motorisierte Zweiräder als in Immobilien gesteckt.
Gerade mal 15 Lenze verbrachte ich in der für mich noch kradlosen Welt, da ballert plötzlich, wie aus dem Hut gezaubert, eine Black Bomber an unserem Haus vorbei. Waaaahhhnsinnn, wat is dat denn???? Was für ein Sound. Die Honda CB 450 ist zu dieser Zeit das Nonplusultra und flößt allen Motorrad-Verstörten einen Riesenrespekt ein. Die Maschine gehört einem echten Kerl, der einen Block weiter wohnt. Immer wenn der stahlharte Mann mit seinem Wahnsinnsteil vorbei kommt, will ich dabei sein. Ich habe es nie geschafft, schnell genug aus dem 3. Stock runter zu hektiken, nur um auf der Fahrbahn liegend zu sehen, ob und wie sich das Hinterrad durch die brachiale Leistung bedingt irgendwie verzeiht. Das muss doch zu sehen sein. Irgendwie. Ich stehe wieder auf und stelle voller Begeisterung fest, dass der Kraftradfahrer in die Gemeinschaftsgarage an der ESSO Tanke einbog, die höchstens mal 65,3 Meter vom Eingang meines elterlichen Heims entfernt ist.
Seit einer knappen Stunde lehne ich an der Garageneinfahrt, dann höre ich das Geräusch, welches mir spätpubertierende Zusatzerlebnisse beschert. Der in Ölzeug gekleidete Mann begrüßt mich freundlich und zieht seine Jacke aus, nachdem er den Helm voll cool auf einem Rückspiegel parkte. Ich habe mir sehr ein großen „B“ für Bike-Man auf seinem T-Shirt gewünscht, genauso wie der Mann vom Krypton sein „S“ vor sich her schiebt. Der Schriftzug „Peace“ unter dem zugehörigen Logo auf seinem T-Shirt entmystifiziert den Biker ein wenig, doch das verdränge ich jetzt.
Ich dreh’ ab, ich darf auf dem Black Bomber sitzen. Erwin startet den Motor – mir fallen fast meine prall gefüllten Familienjuwelen aus der dunkelbraunen Breitcordhose. „Willst du mal drauf sitzen?“, säuselt mir Super-Biker entgegen. Was glaubt ihr, was ich darauf antworte? Klar Mann.
Zwei Jahre später sitze ich endlich auf einer eigenen Maschine, auf einer SS50, einer späteren „Kultfoppe“ von Honda und überlagere das drehfreudige Säuseln des 49 ccm Aggregats mit der in mein Hirn eingebrannten Tonspur der Black Bomber.
Weder die Polizei, noch die Mitbewohner unseres Hauses, finden begrüßen die Anpassung an die Wunschakustik in irgendeiner Weise prickelnd. Das Absägen des Endstücks vom Auspuff des 5,1 PS Boliden bringt nicht den gewünschten Erfolg, sondern ein Geräusch hervor, was eher dem Ruf eines kastrierten Hirsches in der Abenddämmerung ähnelt, als dem Klang eines Biker-Traums. Mein Freund Dirk jagt derweil eine 50er DKW 159 TS Super mit satten 5,3 PS übers Pflaster, womit er mich, sogar zu zweit auf meiner Eierfeile klemmend, versägt. Ich bin äußerst ungehalten und fiebere sehnsuchtsvoll dem Lappen für die echten Bikes entgegen.
Der Lappen naht!
Endlich 18! Vor den Start in die große Freiheit hat das Gesetz die Mühen der Ausbildung samt Prüfung gestellt. Mein Schulfreund Dirk empfiehlt die Fahrschule Nicolai. „Da habe ich meinen Lappen gemacht, der Laden ist echt ok.“ Die Klasse 3 spult ich ohne Zwischenfälle ab und freue mich sehnsüchtig auf die ersten Fahrstunden mit einem richtigen Motorrad.
Der sehr besondere Tag im meinem Biker-Leben beginnt jetzt. Genau jetzt. Mit feuchten Fingern stehe im Agnesviertel auf dem Bürgersteig vor Nicolai’s Fahrschule und warte auf dem Meister. Da isser, wo ist das Motorrad??? Der Verkehrsdozent steigt schwerfällig aus einem VW 1302 Käfer und lässt mich wissen, dass das Fahrschulfahrzeug für die Ausbildung zur Führerscheinklasse Eins in seiner Garage steht. Und diese sei nur ein Viertelstündchen von hier weg.
Nicolai fährt mit mir in seinem VW 1302 zu seiner Garage und parkt im Parkverbot: „Da will jetzt keiner raus“. Er öffnet das Tor, während ich vor Freude schon im Leerlauf im Roten Bereich drehe. Mehrere Fahrräder aller Größen, Rasenmäher und Umzugkartons versperren den Zugang zum Höhepunkt des Ausbildungsunterfangens. Ich helfe mit vollem Körpereinsatz, eine Schneise in die Unterkunft zu fräsen und sehe erwartungsvoll zu, wie Nicolai die alte Pferdedecke von einem seltsam konturiertem Objekt zieht.
Nnneeeiiinnn, was ist das für ein Gerät??? Eine Camping-Toilette auf Rädern??? Ein Aufsitzrasenmäher??? Beim Anblick des heute sehr geschätzten Heinkel Tourist 103 A1 aus dem Jahr 1962 mit unfassbaren 9,5 PS kommen mir fast die Tränen. Auf dieser Gurke soll ich also lernen, wie man Motorrad fährt! Unvorstellbar. Wir zerren die schon jetzt historische Blechkommode aus der Dunkelheit und schieben das stark verstaubte Relikt mit halbplatten Reifen ans Tageslicht. Der Ausbilder steckt eine Art Briefkastenschlüssel ins Zündschloss und zeigt Verwunderung, dass die Batterie noch Saft hat und die moderne Technik den Motor elektrisch startet.
Das Kulturgut kommt endlich in Wallung
Der 175er Viertakter blubbert gemütlich vor sich hin, während sich Nicolai eine Halbschale mit Ledernacken aufs silbergraue Haupt stülpt. „Ich fahr mal eben zur Tankstelle und mach’ Luft und Sprit rein, dann können wir los. Räum’ doch schon mal die Fahrräder wieder rein, ich bin gleich zurück.“ Schlingernd nimmt das historische Gespann Fahrt auf, während mein Traum vom Krad fahren wie eine Seifenblase zerplatzt. Erstmal.
Seine Rückkehr zur Basis ist sichtbar stabiler, die Reifen haben wieder Luft. Schnellen Wortes werde ich über die Bedienelemente und deren Wirkung im Einsatzfall informiert. Es ist mir scheißegal was hier abgeht, Hauptsache ich bekomme meinen heiß ersehnten Lappen .
Die ersten Biker-Kilometer verbringe ich auf dem Heinkel-Rücksitz, dicht an meinen Fahrlehrer geklemmt, der im eng anliegenden grauen Zweireiher, seinen Ölscheitel unter einer Römer Halbschale geschützt, versucht eine gute Figur zu machen. Irgendwie
Was der geübte Mann da mit der Schaltung veranstaltet, kann ich nicht so recht nachvollziehen. Zeitweise glaube ich, der hat den Gasgriff links montiert, so wie er am Lenker rumschraubt. An diese Fahrt werde ich mich nur ungern erinnern, ich verliere gerade meine Affinität zum motorisierten Zweirad.
Uns begrüßt ein überwiegend mit Rollsplitt überzogener Parkplatz, der als TÜV-Prüfplatz für die kleine Prüfung zwischendurch dient. Auch die Besucher des gegenüberliegenden Schlachthofs stellen ihre Fahrzeuge hier ab, während sie die Schnitzel für ihre Betriebe bestellten. Skurril, Motorradfahrer und Schlachter treffen sich auf einem Parkplatz. Mehr oder weniger.
Egal, der Parkplatz ist ein Geheimtipp für all die, die mal eine Acht und eine Bremsprobe auf losem Untergrund erfahren müssen und in die hohe Kunst der Fahrzeugbeschleunigung und Abbremsung eingeweiht werden sollen. Und so ganz nebenbei lerne ich eine 8 zu fahren, ohne umzufallen.
„Fahrerwechsel“ befiehlt Nicolai, das geht runter wie Motoröl. Auf dem Blechsofa sitzend erfahre ich den Grund des Meisters hektische Aktivitäten am linken Lenkerende.
Die Einführung in die Praxis beginnt – anders als erwartet
„Der Kupplungszug klemmt ein wenig, ich muss den Roller mal in die Werkstatt bringen“, erklärt Nicolai und doziert über die Geheimnisse einer Schalttechnik, die für ein Fahrschulfahrzeug äußerst suspekt rüber kommen. Wie ihr bestimmt wisst, wird der komplette linke Griff bei gezogenem Kupplungshebel gedreht. Vom Leerlauf aus nach vorne, quasi unten, in den 1., dann über den Leerlauf hinweg in den 2., 3. und 4. Gang. Soweit war mir das von den Rollern her bekannt, an denen wir als Schüler rumgefummelt haben.
Bei diesem Teil ist die Prozedur eine völlig andere: „Um den ersten Gang einzulegen, musst du erst in den 2., dann wieder zurück in den 1. Gang schalten. Wenn du dann rollst, schaltest du erst in den 3., dann zurück in den 2. Gang. Dann in den 4. und zurück in den 3. Gang. Um den 4. Gang einzulegen, musst du zurück in den 2., dann wieder hoch in den 4. Gang schalten. Ich muss das Ding unbedingt mal in die Werkstatt bringen.“ Ach sooo ...
Ab ins reale Leben des Motorradfahrers. Mein Fahrlehrer sitzt mit seinem hautengen, kleinkarierten Zweireihersakko und Scheitelschoner von Römer hinten drauf auf dem 175er Heinkel-Roller ohne Blinkanlage und ist Herr über die Hebelatur rechts am Hinterrad. Im Falle meines Fehlverhaltens als Fahrzeuglenker und bei nachlässiger Berücksichtigung der Straßenverkehrsordnung, kann der hinter mir klemmende Herr Nicolai auskuppeln und gleichzeitig den Blecheimer abbremsen. Nur über das Hinterrad, aber immerhin.
Erwähnenswert ist der Einsatz des 90er UAB als Fahrtrichtungsanzeigers. Der Unterarmblinker wird durch Abwinkeln des Oberarmes in Schulterhöhe um 90 Grad und einer weiteren Abwinklung des Unterarmes um wiederum 90 Grad nach oben eingesetzt. Als Fahrschüler auf dem heißen Sitz muss ich den Unterarm, wie oben beschrieben, jeweils um 45 Grad drei mal nach links und rechts hin und her bewegen, um den anderen Verkehrsteilnehmern mein Vorhaben zu signalisieren. Ab dem vierten Winkvorgang übernimmt dann der beifahrende Fahrlehrer die Signaltätigkeit, um die restlichen Verkehrsteilnehmer über unser Vorhaben in Kenntnis zu setzen.
Die Fahrspur nach rechts wechseln oder nach rechts abbiegen verzögert die eh schon zähflüssige Fahrt zusätzlich, weil die Hand den Gasgriff verlassen muss. Der Entschluss, ein Motorrad mit Blinkanlage zu erwerben, festigt sich enorm auf dieser Fahrt. Und es soll eine Fußschaltung haben. Auch dieser Wunsch verhärtet sich mehr und mehr während der oben beschriebenen Schaltvorgänge am von Hand bedienten Viergang-Klauengetriebe des Klassikers aus der Heinkel Flugzeugschmiede.
Die Fahrt zur Prüfung passt zum Verlauf der Ausbildung
Nach zwei praxisfremden Stunden Schleichfahrt mit dem Meister der Doppelpedalerie im Huckepack folgt endlich der Tag der praktischen Prüfung. Vor der Fahrschule begrüßt Nicolai seine Prüflinge und quetscht drei nervöse Jungs auf die Zweierrückbank des Käfers, der mit narrensicherer Halb-Automatic das Verständnis der Fahrdynamic nicht wirklich in den Köpfen der Prüflinge eröffnet. Ich soll den Roller zum Prüfplatz fahren und einen Nachzügler noch eben mitnehmen.
Was denn jetz los? Ich gebe meinen Helm dem verunsicherten Prüfling und versuche mit blanker Birne dem Fahrschulauto zu folgen. Nicolai gurkt los und hängt mich an der ersten Ampel bei Dunkelgelb ab, ohne dass er es merkt, wie sich später herausstellt. Keine Chance für uns Verfolger, er ist bei dunkelgelb über die Kreuzung gesemmelt – wie war das mit dem Rückspiegel?
Die knapp fünf Kilometer fahre ich ohne Lappen mit labiler Zuladung und einigermaßen gelungenen Schaltvorgänge zur Prüfung. Dort angekommen sehe ich schon von Weitem, wie Nicolai mindestens ein Prüferohr abkaut. Was dieser Einsatz noch für mich bedeuten soll, erfahre ich später.
Zurück zu Herrn Nicolai - er hat uns nicht vermisst. Das gefällt mir und vermittelt mir so ein wenig das Gefühl von Freiheit. Jetzt schon. Hey, das ist voll geil, wenn du endlich deine Fesseln verlierst und auf die Bahn kannst, ohne Limit. Wenigstens gesetzlich, die Hardware fehlt leider noch. Als Prüfplatz erfüllt der mit Rollsplitt und vielen Löchern ausgestattete 70er-Jahre-Parkplatz gegenüber des Kölner Schlachthofs seinen regelmäßig, von prüfungswilligen Menschen, geschätzten Zweck.
Auf dem Prüfungsplan steht eine Bremsprobe nach erfolgter Beschleunigung auf etwa 50 Km/h, gefolgt von einer sauber gefahrenen 8. Das vorgegebene Tempo erreiche ich locker nach gut drei Minuten und mehreren hakeligen Schaltvorgängen. Mit den Trömmelchenbremsen die Tachonadel zügig auf null zu bringen, kann im Ernstfall ein fruchtloser Versuch sein. Mit kräftiger Pranke lässt sich ein wenig Fahrt wegnehmen, doch auf dem Prüfplatz bleibt der Wunsch des Prüfers nach einer Vollbremsung unerfüllt. Ich schraube noch eine unförmige 8 auf den Asphalt, während Nicolai dem Prüfer wieder am Ohr rumkaut.
Ich wurde von dem frisch informierten Prüfer rüber gewunken und erfahre, dass ich keine weitere praktische Prüfung mit dem bereiften Eimer runterspulen muss. Ich erhebe keinen Einwand und erfahre von Nicolai, dass nun „Mittach“ sei und die Frau des Prüfers das Essen fertig hat. Außerdem hat mein Fahrlehrer dem Behördengesicht gestanden, dass die Schaltvorrichtung nicht einwandfrei funktioniert.
Mit den Worten „sie haben eineinhalb Jahre ein Kleinkraftrad gefahren, dann sollten sie wissen, wie’s geht,“ entlässt mich der Mann im zerknitterten Trenchcoat in die einspurige Welt und steigt in seinen verranzten Opel Rekord, dessen TÜV seit zwei Monaten abgelaufen ist. Mein zufriedener Fahrlehrer gratuliert mir und bittet mich in einem Atemzug, das Heinkel Kulteisen hinter ihm herfahrend wieder zu seiner Garage zu bringen.
Frank R. Weihs
frw - 06.03.2017