• Eine Dax auf Abwegen

Der Nürburgring, die legendere Grüne Hölle, hat schon so manchen Abflug seiner motorisierten Besucher und Hobby-Rennfahrer erlebt. Dass auch neben der Rennstrecke sehenswerte Stunts gefahren werden, möchte ich Euch nicht vorenthalten. Doch vor unserer Reise in die Eifel bedarf es einer kurzen Einleitung.

 

Sommer 72, Jimmy Hendrix ist gerade zu Staub zerfallen, Pril-Blumen verzieren jeden dritten Küchenschrank und die Lieblingsserie Bonanza läuft in den wuchtigen, überwiegend schwarz/weiß flimmernden Kultkisten der halben Nation. Ich habe gerade meinen Lappen Klasse 4 in der Öl verschmierten Cordhosentasche und bin stolzer Besitzer einer Honda SS 50 mit 5,1 PS 4-Takt-Motor, der die Form eines in Silberpapier verpackten Schwarzbrots hat. Boah eyh, tanken mit einer richtigen Zapfpistole. Kein blödes Gepumpe an der 1:25 Zweitakt-Gemisch-Zapfsäule, wie es all die Fahrer der stinkenden ‘Eierfeilen’ tun müssen. Anders als bei meinem Einstiegsfahrzeug, einer Mobylette, kann ich jetzt zu zweit fahren und jemanden mitnehmen. Wie toll. Der absolute Hammer ist, dass ich mit der Foppe auf die Autobahn darf, da das Teil über 60Km/h ’schnell’ ist. Beim Sprit fassen bin ich, technisch bedingt, schneller fertig, aber auf dem unlimited Asphaltband ledern mich fast alle Kumpels mit ihren 49 ccm Zweitaktern ab.

 

Technische Parallelen müssen sich nicht zwischenmenschlich fortsetzen

 

Immer zweiter Sieger zu sein nagt gelegentlich an meinem Selbstbewusstsein, aber das sollte sich bald ändern. Nicht durch die Installation eines Tuning-Kits, nein, René G. kommt ins Spiel. René fährt eine Honda Dax ST 50 mit 4,5 PS Schwarzbrotmotor, ohne Kupplungshebel und drei andersrum geschalteten Gängen. Der Leerlauf ist oben, hoch geschaltet wird nach unten. Der Tank ist unterm Sitz. Optik und Bedienung wollen erst noch zu einem ordentlichen Kleinkraftrad heranwachsen. Meine Kumpels und ich akzeptieren diese rollende Kackschüssel als ideales Zigarettenholfahrzeug, aber ein Kraftrad ... würg. Ich muss vorsichtig sein, da ist der gleiche Motor drin, nur mit 0,6 PS wenig Leistung, gekoppelt mit einem Gurkengetriebe. Die Kupplung fehlt auch.

 

Unterwegs mit meiner SS 50, die wenigstens wie ein – äh kleines, aber immerhin – Motorrad aussieht fahre ich durch eine ruhige Wohnsiedlung und sehe ich, wie jemand laut fluchend am Straßenrand an einer Dax rumfrickelt. Als freundlicher Kradkumpel halte ich an und will helfen. Ohne Begrüßung werde ich sofort in die Problematik des hilflosen Schüsselpiloten eingeweiht: „Irgendwas stimmt mit der Elektrik nicht“, ranzt mich René an, als hätte ich ihm das Ding verkauft und ihn über den Tisch gezogen. „Das blöde Teil geht immer wieder einfach so aus.“ Ich bücke mich über das Objekt seiner Begierde, drücke den Kerzenstecker wieder richtig drauf und habe umgehend einen neuen Freund gewonnen. René strahlt breit aus seinem behördenförmigen Blouson heraus, der von einem billigen Römer Polycarbonat-Helm mit einer hochgeschobenen Snoopy-Brille gedeckelt wird. „Wo fährst du hin?“ werde ich gefragt. Ich nenne ihm meinen Zielort und habe für die Weiterfahrt eine unerwartete und äußerst eigenwillige Begleitung. Zum Abschied gebe ich ihm meine Telefonnummer. Wir wohnen im gleichen Viertel, ein Wunder, dass ich den bisher übersehen habe.

 

Schadenfreude kommt vor dem Fall

 

Warum ich mich auf folgendes Abenteuer eingelassen habe, war mir anfangs unklar. René ruft mich zwei Wochen nach unserem ersten Treffen an und schlägt mir einen Besuch der international, nicht nur bei Rennsport-Fans bekannten, Nordschleife vor. „Da is nix los, unter der Woche läuft kein Rennen. Wir können einen Weg entlang der Strecke fahren und gucken, wie die Deppen auf die Fresse fallen, die da privat rumgurken.“ Wie wahr sein Spruch werden sollte, erfahre ich im weiteren Verlauf des Tages.

 

Wir wählen den Weg von Köln per Bundesstraße in die Eifel, um nach 80 Kilometern Adenau zu erreichen. Dort stärken wir uns mit einer Currywurst an Orangenbrause und schleppen uns, nachdem unsere Mägen ausreichend gedehnt sind, über ein paar leichte Steigungen weiter bis Breidscheid. Dort biegt der grundsätzlich seltsam aussehende - jedenfalls aus meiner Sicht - Dax-Man in einen ungeteerten Weg ein. Ich folge ihm unauffällig. Begleitet von einem Zaun, der uns von der Rennstrecke trennt, suchen wir uns einen idealen Platz für unsere „Deppen-Observation“. Nach einigen schrottlosen Vorbeifahrten diverser Freizeitheizer meint René: „Lass’ uns weiter fahren, hier passiert nix, die Kurve ist nicht eng genug. Kurz vorm Bergwerk wird’s interessant.“ Und ob das interessant wird.

 

Ein paar Tage zuvor muss es arg geschüttet haben. Ein Fahrzeug mit grobstolligen Reifen hatte tiefe Spuren in dem eigentlich nicht öffentlich zu befahrenden Dienstweg hinterlassen, die sehr plötzlich nach links in die bewaldete Botanik abbogen. René fährt zügig voran und wählt, mit seinen ebenfalls grobstolligen Reifen, den Weg durch die mittlerweile steinhart verkrustete Spur. So spontan wie diese im Wald verschwindet, folgt ihr das Vorderrad der Dax in einem 90-Grad-Haken, während der Rest des Kleinkraftrades weiter geradeaus will. René hebt schwerelos vom Sitz ab und fliegt wie ein Torpedo in die von uns ursprünglich gewählte Fahrtrichtung. Etwas verwunderlich erscheint mir seine Körperhaltung in der Luft. Ein Mensch, der gleich hinfällt, stützt sich ab - eigentlich. Nein, nicht René. Seine Arme liegen bis zum Aufprall am Körper, das Kinn dominant in den Wind gestreckt. Ein satter, Aufschlag, dann schubbert er noch zwei, drei Meter auf dem Dienstweg über den harten Lehm. Der Vergleich ist zwar fies, aber ein vom Lkw gefallener Sack Reis hätte nicht eleganter landen können.

 

Beharrlichkeit führt zum Ziel

 

Ich halte sofort an und will René helfen. Doch bevor ich meine SS 50 aufbocken kann, steht er bereits auf seinen löchrigen Stiefelsohlen und zieht die Dax aus dem für Service-Fahrzeuge freigegebenen Weg. Mit lehmigem Kinn zerrt er energisch am im Auslieferungszustand verstellbaren rechten Lenkerelement, um den Gasgriff wieder in eine für den Fahrer bequeme Position zu bringen. Vergebens. Durch den Sturz ist der wichtigere Teil seiner Lenkrohre voll abgeknickt, und brachte den Leistungsregler in die Höhe des Schutzblechs, direkt griffungünstig neben dem Vorderrad. Nach mehreren Versuchen des Zerrens müde, setzt René sich auf den Sitz und macht die Schildkröte, um die für die Weiterfahrt notwendige Bedienung des Gasgriffs zu ermöglichen. „Das kannste knicken, Mann. Klemm’ den Gaszug ab und zieh’ ihn mit der Hand“, sage ich zum Bruchpiloten mit dem Lehmkinn. Eine klare Stellungnahme zu meinem Vorschlag kann ich seinem Fluchschwall nicht entnehmen.

 

René fährt die komplette Strecke mit der Hand am Gasgriff – wie es sich gehört. Während der Ortsdurchfahrten höre ich ihn fluchen. Die Autobahn ist für ein schnelles Vorankommen normalerweise die bessere Wahl, doch Dax-Man wählt den Weg über die Bundesstraßen, obwohl seine Augen, jedenfalls aus meiner Sicht, nicht mehr als die Fahrbahnoberfläche erblicken können. Die seltsame Figur auf dem seltsamen Fahrzeug erntet zahlreiche verstörte Blicke in den Ortschaften, sowie fast aller der uns überholenden Fahrzeuge.

 

Am folgenden Tag ruft mich René an und meint, dass er in den nächsten Tagen aufgrund steifen Nackens und verkrampfter Schulter nicht mit mir fahren könne.
Ich verspüre eine gewisse Art der Entspannung, obwohl ich diesen kurzen Ausflug mit ihm ... äh irgendwie äußerst genossen habe.

 

Frank R. Weihs

 

frw - 07.03.2017